„Was wir wussten, bevor wir vergaßen“
Ein Gespräch bei Tee, Moos und einem melancholischen Dachs
Es war ein später Nachmittag im Altmond des August. Die Sonne hing träge im Geäst, als hätte sie selbst genug vom Glühen. In der Mulde unter der alten Linde brannte eine kleine Laterne mit trübem Licht. Captain Faulmann hatte sich auf ein Kissen drapiert, das fast so alt war wie der Bäar selbst. Meister Mummrich, Wächter des verborgenen Wissens, saß wie stets im Schatten – halb verborgen, halb bereit.
Der Tee dampfte. Ein Stück Tannennadelkuchen lag unangerührt auf einem Teller.
Captain Faulmann (nach einem langen Schluck, mit Blick in die Krone):
„Sag, Mummrich… wie kommt es, dass wir uns von einem Punkt entfernt haben, an dem alle sagten ‘Das war doch abzusehen!’, hin zu einer Zeit, in der der Modus lautet: ‘Wer konnte denn damit rechnen…?’ Ist das nicht seltsam?“
Meister Mummrich (zupft sich den Kragen zurecht):
„Vielleicht, weil wir uns zu sehr darauf verlassen haben, dass das Wissen schon da bleiben wird, wo wir es zuletzt abgelegt haben. Wie eine Laterne, die man aufhängt und nie mehr überprüft. Und dann – wenn es dunkel wird – wundert man sich, dass kein Licht mehr brennt.“
Ein Rascheln im Farn unterbrach die Stille. Ein Dachs trat in die Lichtung. Breit gebaut, leicht schief im Schritt, mit einem Kopfhörer auf nur einem Ohr und einem melancholischen Blick, den er hinter einem Apfelbalg verbarg.
Dachs (nach einem Schnaufen):
„Heiß wird’s morgen wieder. 39 Grad. Hätte ja keiner ahnen können, wa? Ach, und… Ihr erinnert euch doch an die Lama-Familie von der Weide hinterm Waldstück?“
Faulmann und Mummrich blickten auf. Der Dachs setzte sich nicht – er blieb stehen, als wisse er selbst nicht, ob er bleiben oder weiterziehen wollte.
Dachs (leise):
„Die sind weg. Mussten gehen. Nicht genug Wasser für alle, hab ich gehört. Die Pumpe kaputt, keiner kam – und irgendwann war Schluss. Wurden weggefahren. Jetzt steht das Gras kniehoch. Die Tränke umgekippt. Alles vergammelt. Und alle tun so, als hätten sie nie da gewohnt.“
Meister Mummrich (flüstert):
„Vergessen ist bequemer als Bedauern.“
Captain Faulmann (nach einer langen Pause):
„Aber das Geräusch vom Gras unter den Hufen – das fehlt jetzt. Und die kleinen Lamas, die immer so neugierig waren… die wussten nicht, dass man sie vergessen wird.“
Der Dachs seufzte. Dann zog er weiter, nicht ohne sich kurz umzudrehen.
„Ich sag’s ja nur… Man hätte was machen können. Früher. Als noch was zu machen war. Hätte ja keiner ahnen können…“
Dann verschwand er.
Faulmann (schaut ihm nach, murmelt):
„Doch, Dachs. Doch. Wir wussten es. Wir alle.“
Mummrich (leise):
„Und wir sitzen hier mit Tee und Kuchen. Und die Zeit wird kommen, da werden wir alle sagen, dass keiner etwas wusste.“
Faulmann:
„Vielleicht wissen es alle. Aber keiner will es zuerst sagen.“
Mummrich (mit einem Hauch Bitterkeit):
„Wissen ohne Handeln ist wie ein Schirm im Keller – theoretisch hilfreich, praktisch verstaubt.“
Faulmann (leise, fast zu sich selbst):
„Wissen ist kein Besitz. Es ist ein Auftrag.“
Mummrich (nickt):
„Und manchmal ein Stachel. Aber besser ein Stachel im Gewissen als eine Leere im Kopf.“
Sie schwiegen. Das Schweigen war nicht leer – es war dicht, wie Moos nach Sommerregen. Der Tee wurde kalt. Doch keiner von beiden rührte sich. Aber irgendwann – als der erste Stern über der Weide flackerte – hob Mummrich seine Grubenlampe an. Und Faulmann stand auf, streckte sich langsam, warf einen letzten Blick in die Richtung, in der der Dachs verschwunden war – und murmelte:
„Es wird Zeit, Mummrich. Es wird Zeit…“
Mummrich sagte nichts. Aber er nickte.