Vom Glimmen im Stein
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Cpt Faulmann hatte sich, wie so oft an kühleren Novembernachmittagen, ins Museum für Angewandte Kunst zu Köln verirrt. Nicht aus Zerstreuung, sondern aus jener melancholischen Neugier, die sich einstellt, wenn die Welt draußen zu farblos wird. Die ständige Ausstellung kannte er. Diesmal aber war er eigens gekommen, um die Sonderausstellung “Faszination Schmuck” zu besuchen.
Er schritt mit angemessener Gravitas durch die Vitrinenreihen in dem dunklen, leicht blauen Raum.
Die Ausstellung selbst war weit mehr als eine bloße Anreihung funkelnder Objekte. Sie war ein leiser Dialog zwischen Zeit und Material, zwischen menschlichem Ausdruckswillen und mineralischer Geduld. Faulmann hatte, wie stets, keinen Plan, aber offene Sinne. Die Vielfalt der Materialien, der Wechsel zwischen opulenter Geste und fast asketischer Reduktion beeindruckte ihn. Gold, das zu fließen schien, Glas, das wirkte wie gefrorener Atem, Email, das Geschichten auf winzigem Raum erzählte – was den Käpt’n innerlich leise schmunzeln ließ. Schrieb es sich doch genauso wie E-Mail.* Die Vorstellung einer barocken E-Mail mit Goldrand und Wachsiegel erheiterte ihn kurz. Dann wurde er wieder ernst.
Er musterte die Objekte, als ihm plötzlich ein Glimmen auffiel, das nicht ins Raster der Funktionalität passen wollte.
Ein Anhänger.
Ein Stück Stein, gefasst in Silber. Und in seinem Innern: Landschaft. Rotbraun, orangerot, von unten aufglimmend wie ein Sonnenuntergang, der sich zu spät erinnert, dass der Tag schon vorbei ist. Faulmann trat näher. Er legte den Kopf schief. Wie war es möglich, dass sich ein solches Bild nicht auf Leinwand, sondern auf Silizium abspielte?
Landschaftsachat, so die Beschriftung – ein Begriff, der ihm bislang nicht begegnet war. Umso mehr schien es eine wundervolle Entdeckung. Handy raus – Recherche an. Ein Stein, der malt, ohne Absicht. Eine Landschaft, die sich selbst genügt. Kein Kunstgriff menschlicher Hand, sondern das stille Werk der Geologie.
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Dort, wo in vulkanischen Hohlräumen über Millionen Jahre hinweg eisenhaltige Lösungen feinste Schichten zogen, entstanden diese Szenen.
Die Natur als Malerin, dachte Faulmann, ist geduldig. Sie hat kein Interesse an Eröffnungen, keine Sorge um Vernissagen. Sie malt nicht für Augen, sondern für sich selbst. Und wenn sie fertig ist, vergräbt sie ihr Werk ein paar Dutzend Meter tief in Basalt.
Das Schmuckstück war rechteckig, fast streng in der Form. Als wolle es seine poetische Innenwelt mit geometrischer Disziplin kontern. Faulmann sah Linien, die wie Horizontstreifen verliefen, hellere Bänder am oberen Rand, dunkle Verdichtungen unten, dazwischen wolkige Wirbel, wie sie ein Kind malen würde, wenn es sich an Wolken erinnern sollte.
Man konnte darin alles sehen: ein Abendrot über der Sierra, ein glühendes Sedimentmeer, das letzte Licht über der Lava. Oder nichts davon. Nur Stein.
Und dennoch. Faulmann wusste nun, dass Menschen solche Steine nicht nur betrachten, sondern sich um den Hals hängen. Als sei das, was Jahrmillionen schweigend gezeichnet hatten, nun bereit, über einem Brustbein zu ruhen.
Was trägt man da eigentlich? Ein Bild? Eine Landschaft? Ein Gedächtnis? Oder einfach nur: Zeit. Gefasst in Silber, befestigt an einer Kette, schimmernd zwischen Haut und Hemd. Faszinierend – wie passenderweise ein spezieller Vulkanier sagen würde.
Später, draußen, ging er ein Stück am Rhein entlang, stromabwärts, dorthin, wo die Hohenzollern einem über den Fluss helfen. Die Luft war kühl, aber nicht scharf, und der Fluss trug gelassen weiter, was der Tag ihm an Gedanken überlassen hatte.
Wenn die Physik malen kann, wenn Geologie zu Poesie gerinnt – warum sollte dann nicht auch Algorithmik Landschaften erschaffen dürfen? Vielleicht ist das eigentliche Wunder nicht die Herkunft des Bildes, sondern dass wir es überhaupt als solches erkennen. Wenn uns schon die statischen Regeln der physikalischen Chemie dazu bringen, Bilder im Stein zu sehen, sollten wir dann wirklich überrascht sein, dass sogenannte lernende Systeme ebenfalls zu Bildern, ja Sprache, finden? Vielleicht – und Faulmann tippte sich dabei innerlich an die Stirn – liegt das eigentlich Bildhafte nicht im Objekt, sondern in uns. Es ist unser Auge, das Ordnung in Unordnung liest, Bedeutung aus Mustern zieht, und Schönheit und Intelligenz in Emergenz vermutet.
Der Achat hat keine Absicht. Der Algorithmus ebenso wenig. Doch in der Betrachtung entsteht das Dritte – jenes kleine Funkeln zwischen Wahrnehmung und Welt, das wir gemeinhin Kunst nennen. Vielleicht also, dachte Faulmann, ist die nächste große Ausstellung nicht kuratiert, sondern berechnet. Vielleicht hängen dort keine Gemälde aus Öl und Leinwand mehr, sondern Berechnungen in Bildform – algorithmisch geboren, ästhetisch belichtet. Und vielleicht – ein flüchtiges Lächeln huschte ihm über die Lippen – wird auch dort wieder ein Glimmen sein, das nicht ins Raster der Funktionalität passen will.
Vielleicht, dachte Faulmann, sollten wir überhaupt aufhören, existenziell beleidigt zu reagieren, nur weil uns vor Augen geführt wird, dass das, was wir für unser ureigenstes Gut – unsere Intelligenz – halten, sich zumindest in Teilen als berechenbar herausstellt. Als ob uns ein Spiegel vorgehalten würde, und wir uns nicht darüber empörten, was er zeigt, sondern dass er überhaupt zeigt.
Wäre es nicht viel verblüffender, wenn unsere Fähigkeit zu erkennen, zu ordnen, zu formen, gänzlich unzugänglich bliebe für andere Systeme? Ist nicht gerade die Nachvollziehbarkeit unseres Denkens – seine Abbildbarkeit – ein Zeichen für die Tiefe, nicht für ihre Abwesenheit? Vielleicht war das Kränkende nicht die Maschine, sondern unser Beharren auf Exklusivität. Faulmann erinnerte sich an Freuds narzisstische Kränkungen: die kosmologische, die biologische – und nun eben die kognitive.
Wer, so dachte er mit einem kurzen Blick hinüber zur Reiterstatue Friedrichs III. an der Hohenzollernbrücke, bereits den Demiurgen getötet hat – um mit einem anderen Friedrich zu sprechen – sollte nicht überrascht sein, wenn er dabei irgendwann auch sich selbst enthüllt: als Teil des Systems, nicht als seine Ausnahme. Und wäre das wirklich so schlimm?
Faulmann blieb einen Moment stehen. Eine Möwe rief irgendwo über dem Wasser, als wolle sie widersprechen. Oder zustimmen. Man wusste das nie so genau. Er schob die Hände tiefer in die Manteltaschen, nickte kaum merklich – und ging weiter. Nicht klüger, nicht dümmer. Aber vielleicht: etwas gelassener.