Der Ruf auf der Lichtung
Der Ruf auf der Lichtung
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Auf der Lichtung herrscht nie völlige Einigkeit. Das ist gut so – denn Reden, Zuhören und Widersprechen gehören zum Atmen des Waldes. Nur manchmal, wenn jemand zu laut beschließt, was andere sagen dürfen, wird es unruhig. Dann zeigt sich, dass Offenheit nicht Beliebigkeit heißt und dass selbst im freundlichsten Wald eine Spur von Wehrhaftigkeit wohnt.
An einem klaren Abend saßen Faulmann, Mummrich, Dachsbert und – leicht im Schatten – die junge Füchsin Liora auf der Lichtung.
Die Vögel waren schon stiller, nur die Krähe knabberte noch an einem alten Streit mit den Eichelhähern, die sie seither am Krächzen hinderten, indem sie jedes Mal laut pfiffen, sobald sie sie erblickten.
Da kam einer der Eichelhäher angeflogen und rief:
„Es ist beschlossen: Ab heute sagt hier niemand mehr ›dummes Nest‹! Das verletzt die, die eins haben!“
Liora legte die Ohren an. „Ich verstehe, was du meinst“, sagte sie.
„Manchmal tun Wörter, die für die einen harmlos sind, den anderen weh.“
Dachsbert hob den Kopf. „Schon möglich. Aber seit wann beschließt einer allein, was alle sagen dürfen?“
Der Eichelhäher plusterte sich. „Wir waren zu dritt – und sehr sicher!“
Faulmann lächelte unter seiner Mütze hervor.
„Sicher sein ist gut“, brummte er, „aber für alle sprechen ist etwas anderes.
Auf der Lichtung darf man auch sagen, wenn etwas sticht – und wenn einen etwas sticht.
Die anderen dürfen trotzdem sagen, wie sie es sehen.“
Mummrich schob sich die Brille zurecht. „Genau. Sagen – hören – antworten.
Sonst ist es keine Lichtung – denn dann fehlt etwas.“
Die Krähe krächzte: „Ich finde ›dummes Nest‹ eh gar nicht schlimm!“
Der Eichelhäher flatterte empört. „Seht ihr? Genau deswegen muss man’s verbieten!“
„Vielleicht müssen wir’s gar nicht verbieten“, sagte Liora.
„Vielleicht reicht: Wer merkt, dass ein Wort weh tut, sagt es.
Und die anderen hören zu. Und wenn einer trotzdem daran festhält, reden wir noch einmal.“
„Genau“, sagte Faulmann. „Hier wird keiner weggeschickt, nur weil er etwas Ungeschicktes ruft.
Aber auch: Keiner bleibt unwidersprochen, wenn er andere piekst.
Als Weise würde außerdem gelten, wer vermeidet, Stechendes zu sagen –
und nicht meint, er allein dürfe entscheiden, was anderen weh tut.“
„Dann ist das unsere Waldregel?“, fragte der Eichelhäher.
„Nein“, sagte Mummrich freundlich. „Es ist keine Regel. Es ist einfach unsere Art.“
Und weil es still wurde, fügte Mummrich leise hinzu:
„Nur eins noch: Wenn einmal einer käme und sagen wollte, dass hier niemand mehr rufen soll – oder dass manche Tiere gar nicht zählen –, dann widersprechen wir nicht nur, dann tun wir uns zusammen. Eine Lichtung darf offen sein. Aber sie darf nicht dumm sein.“
Und weil die Krähe gern als Weise gelten wollte, hörte sie nicht nur auf, „dummes Nest“ zu sagen –
seit jenem denkwürdigen Abend bauen die Krähenvögel sogar jedes Jahr gleich mehrere Nester.
Gerüchten zufolge gibt es sogar eine geheime Abmachung zwischen Eichelhähern und Krähen:
Man wolle zwar weiterhin erbitterte Feindschaft pflegen, sich aber trotzdem einig wissen in einem Punkt –
gemeinsam jedem die Augen auszuhacken, der käme, um am Wesen des Waldes zu zündeln.
Aber das gehört sicher ins Reich der Fabeln.