Vom Museum zum Kartoffelpuffer: Eine Betrachtung in drei Akten
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Einmal durch die Türen, Karte lösen, Rucksack abgeben, und dann lief Faulmann los, wie er auch im Wald läuft: mit ruhigen Schritten, leicht geneigtem Kopf, aufmerksam, aber nicht suchend. Nur schauen. Nur aufnehmen. Nur verstehen, was man eben versteht. Eine Übersicht verschaffen – so der Plan.
Er wanderte durch die Säle wie durch eine besonders ordentliche Lichtung. Die Bilder hingen still, machten keinen Lärm, schubsten sich nicht gegenseitig weg. Faulmann mochte das. Er mochte es sogar sehr.
Doch dann blieb er abrupt stehen. Vor ihm zwei Werke, die ihn sofort in diesen Zustand versetzten, in dem er sich unwillkürlich die Brille zurechtrückte – obwohl er heute aus Eitelkeit gar keine trug.
Rechts: Franz Wilhelm Seiwerts „Stadt und Land“.1
Links: Heinrich Hoerles „Fastnacht“.2

Und Faulmann dachte zuerst nur eines:
„Was… in aller Bärenruhe… soll das denn sein?“
Die Menschen in den Bildern wirkten wie aus Klemmbausteinen gebaut – kantig, glatt, fast zu ordentlich, um wirklich menschlich zu sein. Er sah Hände, die wie Schaufeln aussahen, und Gesichter, die mehr Symbol als Ausdruck waren. Er sah Masken, die eigentlich gar keine Masken brauchten, und Körper, die sich eher zusammenstecken ließen, als dass sie gewachsen wären.
Faulmann blinzelte. Er war nicht sicher, ob das jetzt archaisch, modern oder einfach nur sehr direkt gemeint war. Es sah aus, als würden die Figuren gleich auseinanderfallen, und gleichzeitig so, als wären sie fest mit der Fläche verschraubt, auf der sie existierten.
„Bauklotz-Menschen sind das“, murmelte er. „Oder Typen. Oder Schablonen. Oder alles auf einmal.“
Er setzte sich auf eine der Bänke, stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ die Bilder wirken.
Am Morgen hatte Faulmann das Gefühl gehabt, dass die Stunden sich wie nasse Blätter aneinanderdrückten – nicht schlecht, aber schwer zu sortieren. Kein Wetter für Fahrradreifen, kein Wind für die Bärenschnauze, kein Anlass, im Wald nach etwas ganz Besonderem zu suchen. Die fünfte Jahreszeit, wie man in Colonia Claudia Ara Agrippinensium die Monate zwischen November und Vorostern nannte, war für ihn ohnehin seit Jahren eher Zeit für Museum, Kaffee und Leinwandgenuss. „Dann eben Museum“, brummte er halblaut in die Tasse seines Frühstückskaffees. Das Museum Ludwig3 kannte er bisher nur von außen, dieses große Bauwerk am Dom, das aussieht, als würde es selbst gern irgendwo herumstöbern, aber nie dazukommen. Heute war sein Erstbesuch – spontan.
Der Raum jedenfalls war plötzlich ruhig genug, dass man das Summen der Klimaanlage hörte – ein konstantes, beruhigendes Geräusch. Perfekt zum Grübeln.
Und Faulmann grübelte. Nicht hektisch. Eher so wie im Wald, wenn man einer Schnecke zusieht, die stundenlang auf einem Blatt sitzt und trotzdem irgendwohin unterwegs ist.
Links standen die beiden Figuren aus „Stadt und Land“: zwei Typen, die sich die Hände gaben, als hätten sie beschlossen, die Welt vorläufig zusammenzuhalten. Der eine städtisch, der andere ländlich, Hammer und Sichel in einer fast friedlichen Eintracht. Doch ihre Blicke trafen sich nicht. Sie schauten in einen Zwischenraum hinein, der aussah wie eine Frage, die niemand zuerst stellen möchte.
Das war keine naive Romantik. 1932 war nicht das Jahr für heitere Bilder. Die Weimarer Republik war damals ein Waldboden im späten Herbst: von oben golden, aber darunter modrig, und alles wartete darauf, entweder zu verrotten oder neu zu wachsen.4
Und mitten in dieser Unruhe malte Seiwert diese beiden klaren, ruhigen Typen. Als wolle er sagen: Wenn schon sonst nichts sicher ist, dann wenigstens das hier.
Seiwert war nicht nur Künstler, er war ein Denker, einer, der daran glaubte, dass Kunst verständlich sein muss. Für Arbeiter. Für Menschen, die gerade wenig Trostreiches um sich hatten. Deshalb die Geometrie. Deshalb die Typen. Deshalb dieses Bild, das aussieht wie ein Wandbild für eine bessere Zukunft.
Hier malt jemand Frieden in eine Welt, die gerade lernt, wozu sie imstande ist, wenn sie den Frieden verliert.
Links Utopie, rechts Warnung: Denn rechts tobte ein Karneval, der keiner war. Masken über Masken, Gesichter, die wirkten, als hätten sie vergessen, dass sie mal etwas fühlten. Hoerle malte diese Menschen nicht verspielt, nicht närrisch, sondern wie Figuren eines Traums, in dem niemand mehr weiß, wer er eigentlich ist.
Karneval als Pflicht. Als Bewegung ohne Seele. Als Kostüm, das zu lange getragen wurde.
Hoerle kannte die Verstümmelten des Ersten Weltkriegs. Ganz Köln kannte sie – und seine Kunstgruppe, die Kölner Progressiven,5 machte genau darauf aufmerksam: die Folgen des Kriegs, die Not der Arbeiter, die politischen Spannungen der frühen 1930er. Männer mit Beinstümpfen, mit Prothesen aus Holz und Leder, Männer mit Gesichtern, die eher Masken waren als Haut.
Kein Wunder, dass Hoerle begann, Menschen wie mechanische Figuren zu malen: glatte Gesichter, stark umrissene Körperteile, Arme wie perfekt zugeschnittene Bretter, Hände wie Ersatzteile. Seine Figuren sehen aus wie Piktogramme, aber sie stammen von echten Wunden. Deshalb diese Strenge. Deshalb diese Schärfe. Deshalb dieser Karneval, der sich selbst nicht glaubt.
Vor diesem Hintergrund bekamen die beiden Bilder für Faulmann eine seltsame, aber klare Beziehung zueinander. Die Figuren bei Seiwert standen für etwas, das dringend gebraucht wurde: Halt. Struktur. Eine Möglichkeit, sich nicht im Chaos zu verlieren. Die Figuren bei Hoerle standen für das Gegenteil: das Verstummen, das Verlorengehen, die Gefahr, sich hinter den eigenen Rollen zu verlieren.
So saß Faulmann da und begriff: Das eine Bild zeigt eine Utopie, die so zart ist, dass sie fast zerbrechen könnte. Das andere ist eine Warnung, die so deutlich ist, dass sie fast übersehen wird. Gemeinsam sagen sie: Halt dich fest. Zeig dein Gesicht. Reich jemandem die Hand, bevor die Masken fester sitzen als die Menschen darunter.
Gut, dass Bären keine Gänsehaut bekommen, dachte er.
Als er das Ludwig verließ, lag ein frischer Wind über dem Domplatz, der nach Bratwurst roch. Die Stadt war voller Geräusche, aber anders als der Karnevalslärm – wärmer, weicher.
Auf dem Weihnachtsmarkt duftete es nach Gewürzen, Teig, Apfelmus und ein wenig nach verbranntem Zucker. Faulmann stellte sich an eine Bude, an der eine Frau in einer dicken Schürze Kartoffelpuffer briet wie eine Meisterin ihres Fachs. Er bestellte einen. Nur einen. Mehr braucht man manchmal nicht. Sie gab ihm drei.
Er begab sich an einen Stehtisch und ließ den heißen Dampf in sein Gesicht steigen.
Und plötzlich waren sie wieder da: die Figuren aus dem Museum. Die zwei Arbeiter, die sich die Hände reichten. Und die maskierten Leute, die so taten, als sei ihr Tanz freiwillig.
Faulmann biss in einen seiner Puffer, außen knusprig, innen weich, und dachte:
Vielleicht ist das die ganze Kunst:
zu wissen, wer man wirklich ist,
und trotzdem jemandem die Hand zu geben.
Er nickte. Einmal. Langsam. Wie ein Bär, der weiß, dass manche Erkenntnisse nach Kartoffelpuffer schmecken.
-
Seiwert : Einer, der Ordnung ins Chaos malte, ohne das Chaos zu verraten. ↩
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Hoerle: Sah die Masken der Zeit lange, bevor andere begriffen, dass sie schon festgewachsen waren. ↩
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Das Museum Ludwig: Ein Gebäude, das selbst aussieht, als würde es gern Bilder betrachten. ↩
-
Weimar 1932: Der Moment, wenn der Wald ganz ruhig wird – aber nicht, weil Frieden herrscht. ↩
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Die Kölner Progressiven: Künstler, die meinten, man müsse die Welt erst vereinfachen, um sie zu verstehen. ↩