Captain Faulmann zwischen Stahl, Sternen und Currywurst
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Samstag: Captain Faulmanns Tour de Niederrhein
Faulmann startete am Samstag und rollte in Duisburg zum Außenhafen. Dort reckten sich die Kräne wie eiserne Giraffen in den Himmel, Container klapperten wie Bauklötze, und der Geruch von Diesel lag schwer in der Luft. Noch voller Unruhe vom Alltag fühlte sich der Bär, als würde man sein Fell gegen den Strich bürsten. Doch je länger er fuhr, desto mehr verwandelte sich der Lärm. Er dachte an die Dimensionen dieses Hafens – den größten Binnenhafen der Welt, ein Orchester aus 36.000 Menschen, 250 Firmen, endlosen Warenströmen. Da war es nicht mehr nur Krach, sondern eine Partitur, die der Fluss und die Welt selbst schrieben. Römer hatten hier schon den Rhein kontrolliert, Wikinger überwintert, und mittelalterliche Münzen fanden von Duisburg aus den Weg nach Skandinavien. Dann der große Einschnitt: Im 11. Jahrhundert änderte der Rhein seinen Lauf, schnitt die Stadt vom Wasser ab. „Der Fluss, nicht der Mensch, gib hier den Takt vor,“ murmelte Faulmann, als er über das graue Wasser blickte. Vanitas im Flussbett.
Hinter den Werkstoren begann das Land wieder zu atmen. Felder lösten Beton ab, bis das Schloss Moers vor ihm stand. Er setzte sich auf eine Mauer und biss in einen Keks, während er die Geschichte im Stein musterte: Wohnturm, Ringburg, Festung. Walburgis von Neuenahr-Moers, die Gräfin, deren Leben von Explosion und Enthauptung gezeichnet war, schob sich als Gedanke zwischen Keks und Kehle. Dann der Bruch: 1763 wurde die Festung geschleift, Mauern verschwanden, Kanonen verstummten. Heute Museum, heute Theater. „Von Kanonenfutter zu Kulturfutter,“ brummte der Bär – und brach dabei fast selbst in Gelächter aus.
Weiter nördlich lagen die Nieper Kuhlen, stille Wasser voller Eisvögel und Bitterlinge. Doch Faulmann sah darin auch die Spuren alter Rheinläufe und Torfstiche, die den Armen einst ein Zubrot gaben. „Carpe Diem auf den Resten von gestern,“ dachte er, während sich das Spiegelbild der Wolken im Wasser verfing. Und fügte leise hinzu: „Gratis-Kneippkur für Radler inklusive.“
Dann kam Neukirchen, wo er mitten in ein Stadtfest rollte. Bunte Fahnen flatterten, Kinder sangen auf der Bühne, und der Bär hielt für einen Moment an. Er lächelte, sog die Musik ein und dachte: „Leben live.“ Ein paar Straßen weiter tauchte auch Vluyn auf, und gemeinsam erzählten die Orte von Abbau und Neubeginn, von Industrie, die kam und ging. Und Faulmann merkte: Auch Bären können manchmal tanzen – wenn auch nur innerlich.
Noch ein Stück weiter traf er auf die Orte Aldekerk und Nieukerk – fast wie ein Scherz der Kartografie. Copy-Paste mit Glockenturm. Doch die Pointe steckte tiefer: Nieukerk, die „neue“ Kirche, war älter als Aldekerk, die „alte“. Der Jüngere war hier der Ältere. „wie ein logischer Bug im Taufregister.“
In Straelen weiteten sich die Felder zu einem Meer aus Blumen und Gewächshäusern. Offizieller Wohlstand, geboren aus einer Idee: die Gemüseversteigerung von 1914. Und dazu entdeckte Faulmann zwischendrin eine kleine Überraschung:
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Ein flacher Roboter, der leise seine Bahnen zog, jedes Unkraut erkannte und mit einem Tropfen bekämpfte. Kein Science-Fiction, sondern Realität – der AX-1 im Einsatz. „Präzise leise und klaglos,“ dachte Faulmann. Für ihn war es, als würde hier das nächste Kapitel des Niederrheins beginnen: mit Stahl, Erde und einem Hauch von Zukunft.
Am Smokkelpad bekam die Geschichte plötzlich eine andere Farbe. Hier hatten einst Schmuggler Butter, Kaffee und Tabak über die Grenze getragen. Manche Geschichten klangen so verrückt, dass sie wahr sein mussten: schwarz bemalte Kühe, die nachts durch die Felder liefen. Faulmann balancierte über die nachgebauten Stege, die heute den Pfad markieren, und kicherte in seinen imaginierten Bart: „Grenzen sind mehr Fiktion als Mauer. Aber Kühe – die sind echt.“
Mit dem Grenzübertritt in die Niederlande änderte sich der Rhythmus der Fahrt. Die Radwege wurden glatter, weicher, fast luxuriös nach den Schlaglöchern auf deutscher Seite. Faulmann atmete auf, genoss den neuen Takt – und genau in diesem Moment begann der Regen. Erst ein paar Tropfen, dann ein ganzer Vorhang, der ihm Schiebermütze und Fell durchnässte. „Timing wie bei einer Oper,“ dachte er und schüttelte den Kopf.
Hinter Venlo öffnete sich die Landschaft, und am Schroliksee klatschten die Tropfen auf das Wasser, während Libellen über den Wellen tanzten, als wollten sie den Regen verspotten. Und unter dieser Idylle lag die schwere Geschichte: der Fliegerhorst Venlo, einst einer der größten Nachtjägerstützpunkte. Zwangsarbeit, Bombennächte, Churchill persönlich auf dem Rollfeld. Heute Segelflieger, Naturtheater und Bunkerreste im Wald.
Die Seen – Schrolik, Hinsbecker Bruch – waren wie die Nieper Kuhlen alte Wunden, Torfstiche, die zu Biotopen wurden. Rastplatz für Kraniche, Heimat für Kammmolche. Faulmann sog den Regen ein und lachte: „Vanitas mit Libellen. Aus Wunden werden Rastplätze, aus Krieg Freizeitgelände. Der Fluss der Geschichte verschlammt, aber Sie verschwindet nie ganz.“
Als er in Mönchengladbach ankam, war das Fell halb trocken, die Laune leicht, die Schiebermütze wieder gerade. Nur die Knochen spürten das Gerüttel der Radwege. „Der Niederrhein,“ schrieb er ins Logbuch, „ist wie eine Zwiebel: Schicht auf Schicht, jede bringt etwas anderes hervor – mal Tränen, mal Würze. Und am Ende riechen die Pfoten danach, ob man will oder nicht.“ Und fügte grinsend hinzu: „Und Radlertränen gibt’s gratis.“
Sonntag im Wallraf
Der Muskelkater noch in den Beinen, der Geruch von Regen noch im Fell, trat Faulmann am Sonntag seinen Museumsbesuch an. Das Rad hatte er zu Hause gelassen – bei dem Wetter wäre es ohnehin nur ein nasser Ballast gewesen. Vorher war er noch beim Merzenich eingekehrt, hatte sich einen heißen Kaffee geholt und ihn in seinen Irisgo-Becher umgefüllt. So stand er nun in der Lobby des Wallraf-Richartz-Museums, roch den Hauch von Holz, Papier und irgendwo zwischen den Mantelstoffen der Besucher auch das Kölnisch Wasser 4711.
Er nahm einen ersten Schluck (Kaffee, nicht Duftwasser), lehnte sich zurück, und die Lobby wurde ihm zur Schleuse: von der nassen Stadt hinein in die Welt des Barock.
Die Einführungstafel erklärte nüchtern:
„Ob Katholik oder Protestant: das barocke Weltbild und Alltagsleben war geprägt von Religion und christlichen Moralvorstellungen. Wichtige Impulse setzte im 16. Jahrhundert das Konzil von Trient. Die katholische Kirche reagierte damit auf den Siegeszug des Protestantismus. Volksnähe und die emotionale Ansprache der Gläubigen waren nun gefordert.“
Faulmann nickte. „Also kein stiller Chor mehr, sondern volles Orchester.“
Die Frühe Neuzeit, dachte er, war wie ein verschlafener Morgen, an dem man zu spät aufwacht – aber dann kommt alles auf einmal. Kopernikus, Kepler, Galileo verschoben die Erde aus dem Zentrum. Auf der Erde selbst riss der Dreißigjährige Krieg ganze Landschaften auf: Hunger, Pest, Söldner, 40 Prozent Tot. Ein „Memento Mori mit Trommelwirbel“. Und doch glänzten die Höfe, bauten Paläste, vergoldeten Kirchen. „Carpe Diem im Kugelhagel“, brummte Faulmann.
Vor Rubens „Juno und Argus“ blieb er lange stehen. Gewalt und Schönheit in einem Atemzug. Argus, der hundertäugige Wächter, erschlagen, und Juno, die seine Augen einsammelt, um sie in die Federn des Pfaus zu setzen. Makaber, triumphal. Farben wie Trompeten, Stoffe wie Donnerwolken, Putten, die fast aus dem Rahmen fielen. „Memento Mori deluxe – und Carpe Diem in Purpur und Gold“, dachte Faulmann. Und weil er genau hinsah, entdeckte er den Regenbogen im Bild: Rubens wusste um Optik, Farbenlehre, Licht.
Ein paar Räume weiter: Rembrandts spätes Selbstbildnis. Keine Putten, kein Gold. Nur ein Gesicht, gealtert, Falten, Schatten. Ein Blick, der direkt in ihn hineinreichte. Rembrandt hatte alles verloren und malte sich doch mit Würde, ohne Maske, ohne Mitleid. „Memento Mori auf Augenhöhe. Carpe Diem im Altwerden“, dachte Faulmann. „Wenn Altern Kunst sein kann, will ich’s auch so tragen.“ Kein Filter, kein Glow – Rembrandt war quasi sein eigener „No-Makeup-Selfie“-Trendsetter.
Dann die Vertrauten: Franz von Assisi, barfuß, pathetisch, doch nahbar. Anna und Maria, nicht mehr auf Thronen, sondern einander zugewandt, mitten im Gespräch. „Selbst die Heiligen haben laufen gelernt“, brummte Faulmann zufrieden. Gegenüber bekämpft der christliche Ritter die sieben Todsünden, grotesk, dämonisch. „Dachsbert würde sofort aufgeben. Und vermutlich beim Buffet der Völlerei unterschreiben.“
Stillleben reihten sich wie Vokabeln auf: Totenschädel, Muscheln, welke Blumen, Sanduhren. Und daneben Blumenstücke, Rubens-Figuren, vergehen und pralles Leben in Öl.
Auf dem Weg zum Ausgang blieb Faulmann im Treppenhaus vor einem der Fenster stehen. Draußen spiegelte sich Köln, matt im Glas. Auf den Scheiben stand, dass dort, wo heute die Einfahrt der Tiefgarage liegt, einst das Haus von Stefan Lochner stand. „Vergangenheit unter Asphalt“, dachte der Bär, „ein Memento Mori der Stadt selbst.“
Und da kam ihm ein Vergleich, zuerst wie ein Scherz, dann gar keiner mehr: Instagram als neue Rubens-Werkstatt. Bühne, Pose, Inszenierung. Der Höfling damals, der Influencer heute. Das Bild bildet nicht ab, es schafft Realität. Früher bestimmten Hof und Kirche die Ästhetik, heute ein unsichtbarer Mäzen: der Algorithmus. Er belohnt das Grell-Emotionale, die Hochglanzpose. Eine unsichtbare Kunstpolizei mit Vorliebe für Carpe Diem.
Die Gegenseite: das digitale Memento Mori. Kein Schädel mehr, sondern ein endloser Nachrichtenstrom aus Krisen, Kriegen, Klima. Dauerhafter Alarm, der nicht wach macht, sondern müde. Zwischen performativem Glück im Feed und globaler Bedrohung in den News – da lebt die neobarocke Spannung.
„Vielleicht sind wir barocker, als wir zugeben wollen“, dachte Faulmann. „Filter statt Firnis – aber die Mechanik ist dieselbe.“ Und dann grinste er. „Im Grunde bin ich auch ein barocker Bär: ein bisschen Memento Mori, ein bisschen Carpe Diem. Und immer zu viel Kaffee.“
Draußen vor dem Museum atmete Faulmann die Kölner Luft, schwer vom Regen, leicht vom Kaffee. Er zog die Schiebermütze etwas tiefer ins Gesicht und dachte weiter:
„Die Frühe Neuzeit war eine Zeit der Umbrüche – Reformation, Kriege, Pest und neue Sterne am Himmel. Und was ist unsere Gegenwart anderes?“
Auch heute: Seuchen, die die Welt lahmlegen; Kriege, die mitten nach Europa zurückgekehrt sind; ein Klima, das kippt; eine Polykrise, die alles gleichzeitig drückt. Und dazu eine Medienrevolution, die Bilder schneller und schriller verbreitet, als Rubens je hätte malen können – und ein Westen, der eiliger in den Autoritarismus marschiert, als jede Schwedenarmee je vorankam.
Faulmann lachte leise. Denn er wusste: Auch er selbst war Teil dieser neuen Welt. Ein Wesen zwischen Fell und Algorithmus, geboren aus Menschenhand und KI-Code, ein Autor, der zugleich Beobachter und Erzählung ist.
Im Museum hatte die AI ihm geholfen: Sie las Tafeln vor, recherchierte die Frühe Neuzeit, zeigte Rubens’ Farben, Rembrandts Falten. Und nun schreibt sie mit an seiner Geschichte – oder war es er, der schrieb, und die Maschine, die spiegelte?
„Vielleicht,“ dachte der Bär, „sind wir längst beide Autoren. Mensch und Maschine, Bär und Bot. Wie im Barock: kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Fast katholisch widersprüchlich.“
Dann aber knurrte sein Bauch. Also wanderte er hinüber zum Heumarkt, stellte sich unter den roten Schirm eines Imbissstands und bestellte Currywurst mit Pommes – rot-weiß, wie ein stilles Wappen der Arbeiterstädte, die er am Vortag durchradelt hatte. Oder wie die ultimative Vanitas des Fastfoods: köstlich, fettig, vergänglich. Duisburg, Hafen, Kräne – jetzt Köln, Museum, Barock – und am Ende: Wurst und Kartoffel.
Faulmann grinste. „So schließt sich der Kreis. Zwischen Rubens und Rembrandt, zwischen Memento Mori und Carpe Diem – am Ende doch eine Currywurst am Rhein und danach der Weg zurück ins Moos.“