Faulmann und die Gestalt der Dinge

    2025-10-19 00:00:00 +0200

    Der Morgen am Flughafen war kurz und stürmisch. Der Geruch von warmem Öl und Kerosin lag in der Luft. Ein schneller Kaffee auf der Aussichtsplattform. Hier kann man sonst auch mal Stunden verbringen, den Fliegern beim Starten und Landen zusehen – den Planespottern beim Klicken und Prahlen –, aber dafür stürmt es heute zu sehr. Daher schnell in die S-Bahn Richtung Innenstadt. Der Kapitän – das Klapprad neben sich, die Gedanken noch irgendwo zwischen Startbahn und Schlaf – fährt zum MAK, dem Museum für Angewandte Kunst. Dort will er sich die Ausstellung zu Kunst und Design ansehen – und findet sich, ganz unerwartet, in einem anderen Zukunftsversprechen wieder.

    Es ist still. Nur der Boden hallt leise unter den Sohlen. Im weiten weißen Vorraum steht er allein – der Mercedes-Benz 300 SL, Gullwing, Flügeltürer, Ikone. Seine Linien sind glatt wie gespannte Muskeln, sein Chrom spiegelt das Licht der Halle. Faulmann bleibt stehen, fast andächtig. „Ein Tier aus Metall“, denkt er. „Geboren aus Geschwindigkeit und Sehnsucht.“ Auf dem Schild daneben liest er: „Sensation der Straße“, „Designlegende des 20. Jahrhunderts“. Und tatsächlich – das Ding hat etwas Lebendiges. Nicht nur, weil es glänzt, sondern weil es etwas erzählt: von Träumen, Technik und dem menschlichen Willen, Schönheit in Bewegung zu übersetzen. Der Bär tritt einen Schritt zurück. Hinter diesem Auto, ahnt er, beginnt etwas Neues – eine Geschichte, in der das Nützliche plötzlich schön sein darf und das Schöne sich mit Schrauben befestigen lässt.

    Mercedes-Benz 300 SL By Oleg Yunakov


    Vom Werkbund fast bis zum Weltraum

    Es begann, wie so oft, mit der Maschine. Mit Zahnrädern, Dampf und dem großen Traum, dass alles schneller, billiger, besser werden würde. Doch irgendwo zwischen Werkbank und Warenhaus wurde ein neuer Gedanke geboren: Wenn schon alles industriell, dann wenigstens schön. Der Deutsche Werkbund war eine solche Geburtsstätte: Architekten, Unternehmer, Künstler suchten gemeinsam nach einer neuen Ästhetik für das industrielle Zeitalter. Dinge sollten nicht nur funktionieren, sondern auch würdig sein – ein Werkzeug des Alltags und zugleich ein Ausdruck einer neuen Welt. Faulmann sieht einen kleinen, perfekt geformten Löffel aus Chromnickelstahl. Schlicht, ehrlich, effizient – und dennoch voller Würde. „Ein Werkzeug für die Zunge“, denkt er. „Und für den Geist.“

    Zwischen Werkbank und Vision

    Zwischen Werkbund und Weltraum liegt eine Schule – das Bauhaus. Keine Kathedrale, sondern eine Werkstatt des Denkens. Hier lernte die Form, Verantwortung zu tragen, und die Linie, Haltung zu zeigen. Das Ornament wich der Ordnung, das Dekor dem Prinzip. Und so fand die Kunst zum Alltag zurück. Faulmann bleibt vor einem Stahlrohrstuhl stehen, kühl und ehrlich in seiner Geometrie. „Schönheit“, murmelt er, „entsteht, wenn ein Gedanke praktisch wird.“ Im Bauhaus war das kein Stil, sondern eine Ethik: Dinge sollten nicht mehr herrschen, sondern dienen – und gerade darin frei werden. Vielleicht, denkt er, begann dort die leise Ahnung, dass Gestaltung mehr ist als Oberfläche – ein Versuch, dem Überflüssigen mit Haltung zu begegnen.

    Die Welt wird Fläche

    Eine Etage weiter dann – rote Quadrate, gelbe Rechtecke, schwarze Linien auf weißem Grund. Mondrian, De Stijl. Faulmann ist irritiert und fasziniert zugleich. Das Chaos der Welt gebändigt in Geometrie? Die Zukunft als Raster aus Primärfarben? Doch während er den Blick entlang einer asymmetrischen Vitrine gleiten lässt, wird ihm klar: auch das ist Design. Nicht Dekor, sondern Weltanschauung. Eine Sehschule. Vielleicht war das die moderne Form der Meditation.

    Materialwunder und Mondlandung

    Und doch bleibt etwas vom Werkbankstaub an den Sternen haften. Bakelit, Catalin, Aluminium – es klingt fast wie ein Zauberspruch. Früher war es Holz, heute Plastik, und morgen vielleicht Luft. Aber schön sind sie, diese alten Radios, diese glattpolierten Stühle, diese Träume vom Fortschritt. Dann kam der Sputnik. „Space Age is here!“, rief der Daily Express, und Faulmann stellte sich vor, wie der erste Ball Chair durchs All schwebt. Die Erde als Designobjekt – und der Mensch mittendrin, mit Glashelm und Fernsehblick.

    Zwischen Orion und Enterprise Orion brachte den Weltraum in die Wohnzimmer, Star Trek in die Köpfe. Beide Serien träumten von Technik, die auch Ethik kennt – und von einer Zukunft, die sich nicht fürchtet, weil sie Verantwortung trägt.

    Zwischen Ordnung und Übermut

    Jede Epoche scheint ihr eigenes Gleichgewicht zu suchen zwischen Kontrolle und Chaos. Der Begleittext spricht von Mid-Century Modern – Schwarz, Weiß, Rot und Gelb, klare Linien, klare Ansichten. Dann vom großen Knall der Pop-Art: Suppendosen werden zu Ikonen, Sofas zu Skulpturen. „Die Spezialisierung tötet die Phantasie“, liest Faulmann und nickt. In den Siebzigern wird das Denken bunt, in den Achtzigern elektronisch, neon-grell, in den Neunzigern nachhaltig-naiv optimistisch. Aus Maschinenmöbeln werden Smart Devices, das Design wird zum Produkt. Und irgendwo zwischen Bakelit und Bubble Chair erkennt Faulmann die alte Wahrheit des Waldes: Alles, was lebt, gestaltet – und alles Gestaltete lebt ein Stück weiter in uns. Das überzeugt, insbesondere weil er auf die ersten Stücke trifft, die er selbst besessen hat.

    „Vielleicht ist Design ja nichts anderes“, murmelt Faulmann, *„als die Kunst, den Dingen das Schweigen beizubringen – damit sie uns zuhören. Heute mehr denn je.“

    Jedenfalls ist diese Ausstellung – und damit der erste Teil des MAKK, den der Bär besucht hat – mehr als einen Besuch wert. Eine wunderbar inspirierende Tour de Force durch ein Jahrhundert Design – so klug, verspielt und anregend, dass Faulmann wohl wiederkommen muss.

    Sputnik und der Traum vom Morgen

    Faulmann hat sich zum Durchatmen im Vorraum des MAKK niedergelassen – auf einem erstaunlich bequemen Sitzmöbel mit Anschluss für Handy, Computer und Gedanken. Draußen sieht man den Herbst hinterlistig herumlungern, und ihm kommt wieder einer der Texte aus der Ausstellung in den Sinn:

    „Nachdem 1957 der russische Satellit Sputnik I in den Weltraum entsendet worden war, titelte die britische Boulevardzeitung Daily Express: ‚Space Age is here!‘ … Der finnische Designer Eero Aarnio entwarf mit dem Ball Chair und dem von der Decke herabhängenden Bubble Chair die spacigsten Sitzmöbel dieser Zeit … Die Düsseldorfer Künstlergruppe ZERO machte das Licht selbst zum Material.“

    und weiter:

    „ZERO, so Otto Piene, war ‚eine Zone des Schweigens und neuer Möglichkeiten … das Countdown vor dem Raketenstart‘.“

    Faulmann lächelt. Ein Countdown – genau jener Moment, in dem noch nichts geschieht und doch schon alles begonnen hat.

    Die Stille vor dem Denken

    Diese Zone des Schweigens bewegt etwas. Sie erinnert ihn an das Gegenwärtige, wo alles zu sprechen scheint: Gesetze, Modelle, Systeme. Mal wieder will man das Unbestimmte ordnen, zertifizieren, einhegen. Und doch, bemerkt er, liegt der Clou gerade darin, dass es nicht das “begreifbare” betrifft, sondern das, was sich dem einfach Auflistbaren entzieht: jene Systeme, die inferieren, lernen, anpassen – also dort operieren, wo einfache Determinismen enden.

    Das Gesetz versucht, das Nicht-Offensichtliche regelhaft zu erfassen. Es markiert das scheinbare Entgleiten als Risiko – und macht aus der Offenheit des Denkens ein administratives Problem. Was in der Kunst eine Zone der Möglichkeiten war, wird in der Politik und Jurisprudenz zur Zone der irrationalen Aufsicht.

    Hier, zwischen Lichtobjekten und weißen Wänden, spürt Faulmann den Unterschied zwischen zwei Arten des Wissens: dem ontologischen, das fragt, was etwas ist – und dem epistemischen, das nur fragt, was sich über etwas sagen lässt. Verordnungen versuchen, Intelligenz nicht als Sein, sondern als Regelbarkeit zu denken. Sie stellen Ordnung über Einsicht, Kategorisierung über Verständnis. Und so wird das Denken selbst zu einer Ausnahme vom technischen Protokoll degradiert: un-intelligent, solange es klassifizierbar bleibt – un-un-intelligent und verdächtig, sobald es sich dem entzieht.

    Ein Bär und die Gehirne

    Faulmann war nie “bloß” Spaziergänger, Radfahrer, Museast oder Poet. Einige Jahre seines Lebens hatte er – fast gegen sein Naturell – Gehirne als dynamische Systeme studiert: ihre Strukturen, ihre (nicht)linearen Muster, ihre Versuche, sich selbst zu begreifen. Was er dabei lernte, war weniger Wissen als Demut. Denn je tiefer man in die Windungen des Denkens vordringt, desto deutlicher wird: Intelligenz ist nicht nur Mechanismus, sondern auch ein Raum – ein Topos zwischen Offenheit und Irrtum. Sie lässt sich nicht definieren, ohne zu verschwinden. Das wird einem eigentlich schon klar, wenn man bedenkt, was das kleine Wort de-fin-ieren eigentlich meint. Und da ist es recht egal, ob man vor das Wort mit I noch artificial schreibt.

    Das Paradox der Ordnung

    Vielleicht, denkt er, ist das der eigentliche Witz unserer Zeit – dass ausgerechnet! jene, die Intelligenz verwalten wollen, sie dabei verlieren. Denn wer das Intelligente ganz bestimmen möchte, verbannt es vermutlich aus dem Bereich des Lebendigen. Das epistemisch Ordnende, das sich für vernünftig hält, wird ontologisch dumm: verlässlich, berechenbar, unbelehrbar. Er muss lächeln. Zwischen den glänzenden Oberflächen der ZERO-Objekte spiegelt sich dieses Paradox – wie Licht, das man zu fassen versucht, und das doch erst sichtbar wird, wenn man es nicht hält.

    „Nur wer dumm genug ist, will wissen, was Intelligenz sei. Wer’s wüsste, hätt sie schon verloren.“

    Vom leuchtenden Morgen zur Neon-Nacht

    Und irgendwo viel später, lange nach Sputnik und der Mondlandung, erinnert sich der Kapitän an einen jungen Faulmann in den achtziger und neunziger Jahren, der vor dem flimmernden Bildschirm saß: Raumpatrouille Orion und Star Trek. Zwei Visionen des gleichen Wunders – Technik als Bühne der Hoffnung. Raumpatrouille Orion lief da längst in Wiederholungen, Star Trek schien aus einer anderen Galaxis, und doch berührten beide denselben Nerv: die Sehnsucht, dass Zukunft mehr sei als Fortschritt. Star Trek legte noch etwas dazu – die Ahnung, dass Technik und Ethik eines Tages in dieselbe Richtung weisen könnten, insbesondere in der damals neu aufbrechenden nächsten Generation.

    Faulmann denkt an jene Zukunftsbilder zurück (<- interessant, dass man das kann, denkt er gleichzeitig) – an die glatten Oberflächen, die hellen Kommandobrücken, die Gewissheit, dass Fortschritt auch Verantwortung bedeuten könne. Orion, Enterprise – sie waren sauber, optimistisch, fast pastoral. Der Mensch reiste ins All, um zu verstehen, nicht um zu entkommen.

    Doch irgendwann drehte sich das um – nicht nur in der Welt, auch in Faulmanns Medienkonsum. Aus Chrom wurde Neon, aus Vision Dystopie. Die glänzenden Raumschiffe wichen den Schattenstädten des Cyberpunk, die Zukunft roch plötzlich nach Ozon, Öl und Angst. Das Design der Sechzigerjahre sprach von Hoffnung, das der Achtziger von Erschöpfung – als hätte man den Traum von der Zukunft gegen den Verdacht eingetauscht, dass Technik uns längst überholt. Irgendjemand scheint das als Anleitung verstanden zu haben. Derweil stecken wir in einer fünfzig Jahre alten Dystopie fest – und merken nicht, dass wir längst einem Grayschen Prinzip folgen: Zukunft als Remake der Enttäuschung, während wir uns, ganz wie Johns Namensvetter Dorian, rückwärts durch die Zeit bewegen.

    Null ist kein Nichts

    Draußen tropften Blätter von den Bäumen, als Faulmann durch die Glasfront blickt. „Zero“, denkt er, „ist kein Nichts. Es ist der Moment, bevor etwas wird.“ So wie der Countdown kein Schweigen ist, sondern gespannte Möglichkeit. Wie Intelligenz nicht im Ergebnis liegt, sondern im Finden des richtigen Fragens. Und wie jedes wirklich neue Denken beginnt hoffentlich auch das diesmalige – nicht mit Wissen, sondern mit dem Mut, noch keine Antwort zu haben, und manchmal wohl leider mit Regression.

    Faulmann bleibt noch einen Moment sitzen. Vielleicht, denkt er, hat sich das Design der Dinge nur unserem Denken angepasst – es spiegelt, wie wir sehen: einst nach vorn, heute zur Seite, auf Reflexion bedacht und auf Rückversicherung programmiert.

    Und doch, tief in ihm, glimmt etwas von jener alten Farbe der Zukunft: ein mattes, aber treues Blau. Nicht das rückwärtsgewandte Blau – das in Wahrheit aus braunen, stillstehenden Herzen stammt –, sondern das optimistische Blau des Kollegen, der um die Ecke grüßenden orangefarbenen Maus, und das der dynamisch pulsierenden Warpkerne, die uns superreal schnell dorthin bringen, wo nie zuvor ein Mensch gewesen ist – vielleicht sogar zu sich selbst.


    Faulmann, im Herbst 2025 – zwischen Neon und Blau.

    You Will Never Know

    2025-10-07 00:00:00 +0200

    I. You Will Never Know

    You can count, catalogue, describe – packages, modules, libraries, dependencies.
    You can write an SBOM, the promise of code: This is what I meant to be.
    And you can record an RBOM, the testimony of runtime: This is what I was when you looked at me.

    But between them lies what remains unseen:
    Imports that appear only when it rains.
    Paths that emerge in the stillness of memory.
    Versions written by chance when the build server dreams.

    Some call it drift. Others call it life.

    What we gain is not knowledge, but approximation –
    a more honest kind of not-knowing.
    For whoever observes the code already changes it,
    and whoever defines it can never tell what it will load tomorrow.

    Perhaps that is progress:
    not believing we can grasp the flow,
    but learning to understand the current that carries us.

    II. And Then There Is Infrastructure

    And then there is infrastructure –
    the silent machinery that makes all promises possible.

    It shifts beneath our builds like tectonic plates:
    containers pulled anew, kernels patched in the night,
    regions failing over to others,
    certificates renewing while we sleep.

    No SBOM or RBOM can chart this terrain.
    It is the weather in which software lives –
    the humidity of networks, the gravity of latency,
    the quiet decay of credentials and caches.

    You can only tend to it, never truly know it.
    Just as you cannot own the sky,
    you can only fly within it for a while.

    III. The Myth of Determinism

    And third — we keep believing that IT is static,
    that systems are repeatable, that builds are reproducible,
    that somewhere there exists a final, frozen state.

    But it never was.
    And every day, it becomes even less so.

    Entropy seeps in through automation,
    through updates that heal and break at once,
    through AI that learns, through networks that reroute,
    through data that grows old while we watch.

    We chase determinism like a mirage,
    knowing that the act of control already alters the system.

    Perhaps it was never meant to be static at all —
    but alive, in the quiet sense that rivers are alive:
    always changing, never lost.

    Faulmann im Strom der Stadt

    2025-10-06 00:00:00 +0200

    Es war das Einheitswochenende – aber eines von der nassen Sorte. Zwei Tage lang hatte es geregnet, gestürmt oder beides zugleich. Der Kapitän – in diesem Fall mehr Heimwerker als Entdecker – verbrachte die Zeit mit kleineren Reparaturen, dem Sortieren von Werkzeug und dem Versuch, ein loses Küchenbrett zu überreden, endlich zu halten.

    Am dritten Tag aber, als der Regen nur noch als leichtes Schauern an die Scheibe trommelte, beschloss er, sich doch noch hinauszuwagen – in die Stadt, in die Geschichte, ins Museum.

    Die sogenannte U-Bahn kam – natürlich – erst nach dreißig Minuten, ohne jede Durchsage oder Ankündigung. Der Bär seufzte und dachte: Einheitswochenende – das bezieht sich wohl auf die Einheit von Warten und Geduld. Auch die weitere Anreise geriet zu einer kleinen Expedition.

    Durch den Stadtmarathon waren weite Teile der Innenstadt abgesperrt; die Wege mäanderten wie ein schlecht gelaunter Fluss um Absperrgitter und Dixie-Reihen, und ein ständiges Auf und Ab aus Unterführungen und behelfs Brücken begleitete den Weg. Als er schließlich am Kölnischen Stadtmuseum ankam, hatte der Regen immerhin auf ein höfliches Nieseln reduziert.

    Das Museum ist seit ein paar Monaten fest beheimatet im ehemaligen Modehaus Sauer, einem Bau, der sich überraschend harmonisch zwischen Kaufhausvergangenheit und Museumsgegenwart eingerichtet hat – offen, hell, mit viel Raum für Blicke statt für Reihenfolge. Das Personal war freundlich, hilfsbereit, und rettete Faulmann vor der ersten Hürde: Schließfächer nur mit Münze – und wie immer kein Bargeld dabei. Man lieh ihm eine, mit einem Lächeln, das beinahe zur Ausstellung hätte gehören können.


    Gleich im ersten Stock blieb er stehen: ein monumentales Stadtmodell von Alt-Köln, gebaut nach dem berühmten Mercator-Plan von Arnold Mercator, dem Sohn des großen Kartographen. Ein Stadtbild in isometrischer Perspektive, exakt vermessen und doch voll künstlerischer Wärme – der erste 3-D-Blick auf Köln, lange bevor Computer solche Ansichten errechneten. Sim Cologne 1571, murmelte Faulmann und lächelte.

    Mercator-Plan der Stadt Koeln, SLUB/Deutsche Photothek

    Das Original war nur eine flache Karte, aber so genau, dass sie sich fast wie dreidimensional erleben ließ. Hier jedoch war sie in echtes miniature 3D gegossen – ein miniaturisiertes Abbild der Stadt um 1570, mit Mauern, Türmen, Kirchen und Gassen, ein Architekturmodell Kölns, das man von oben betrachten kann wie ein Gott mit Kaffeetasse – nur, weil Museum, ohne Kaffeetasse.

    Doch dann sah er etwas, das ihm merkwürdig vorkam: Häuser mitten im Rhein, scheinbar willkürlich verankert – unlogisch und doch auffällig regelmäßig. Er beugte sich näher: keine Frage, da waren Häuser. Erklärungen gab es keine, und genau das scheint Absicht. Hier merkt man, dass das Museum bewusst nicht nur chronologisch erzählt. Statt Jahreszahlen reiht es Themen, Verbindungen, Strömungen aneinander – als wolle es selbst wie der Rhein fließen, mit Nebenarmen, Untiefen und Uferwechseln. Man darf sich treiben lassen, verlaufen, wiederfinden. Eine Stadtgeschichte, die auch quer zur Zeitachse erzählt wird – sie lädt dazu ein, sich selbst in die Geschichten hineinzudenken, statt sie vorsortiert serviert zu bekommen. Und Faulmann, der gerne in Karten denkt, fand genau das gut – auch wenn er natürlich sofort in seinem immer-dabei-Internet nachlas, was es mit diesen Häusern im Rhein auf sich hatte.


    Keine Häuser, sondern Schiffsmühlen – schwimmende Maschinen, die vom Strom selbst angetrieben wurden. Die Kölner Mühlschiffe waren über Jahrhunderte das Rückgrat der Stadt. Sie mahlten das Mehl für zehntausende Menschen, und sie taten es, wo eigentlich keine Mühle stehen konnte – auf dem Fluss. Zwei Boote, dazwischen ein Rad, das vom Rhein getrieben wurde: eine geniale Konstruktion, die sich mit dem Wasserstand hob und senkte, immer im richtigen Winkel zur Strömung.

    Doch was Faulmann besonders faszinierte, war nicht nur die Technik, sondern die Gesellschaft dahinter. Ein ganzer Berufszweig, die Rheinmüller, lebte auf diesen Booten – misstraut, streng kontrolliert, aber unentbehrlich. Die Mühlen gehörten einer genossenschaftlichen Gemeinschaft, den sogenannten Mühlenerben, deren Anteile im Mühlenschrein verzeichnet waren – einem mittelalterlichen Grundbuchsystem, das mehr Organisation besaß als manche heutige IT-Datenbank. Sogar Gewinne wurden anteilig verteilt: die Hälfte an den Erzbischof (gleichzeitig Kurfürst), die andere an die Bürger.


    Faulmann denkt nach: Der Mühlenschrein als früher Kapitalmarkt

    Wer also glaubt, Kapitalmärkte seien eine Erfindung der neusten Neuzeit, sollte einmal einen Blick in diesen Mühlenschrein werfen. Was die Kölner Mühlenerben im 13. Jahrhundert schufen, war im Grunde ein bürgerliches Beteiligungssystem.

    Die teuren, kurzlebigen Schiffsmühlen wurden in Anteile zerlegt, die man kaufen, verkaufen, vererben oder verpfänden konnte. Die Erträge flossen als Gewinnausschüttungen – meist in Geld oder Mehl – an die Anteilseigner zurück. Das Risiko wurde gestreut, der Betrieb blieb stabil. Ein Modell, das alle theoretischen Kernelemente späterer Kapitalmärkte enthielt: gemeinsames Risiko, Umlauf von Wertanteilen, Transparenz und Vertrauen. So entstand – mitten im Mittelalter – eine Art Rhein(isch)er Bürgerbörse. Kein Parkett, keine Tickerkurse, nur Wasser, Holz und Wind. Aber die Idee war dieselbe: gemeinsam in Technik investieren, um mehr Energie aus der Welt zu ziehen, als einer allein vermöchte.

    Faulmann lächelte. Vielleicht war der Rhein sogar die erste Blockchain – nur flüssiger. Mal sehen ob sich da anhaltspunkte finden lassen


    Ein halbstockwerk darüber fand Faulmann ein Echo auf die Mühlen: Wilhelm Kleinenbroichs „Eintreibung der Mahl- und Schlachtsteuer“ (1847). Ein anderer Strom, diesmal aus Geld und Ungleichheit. Im Vordergrund eine Familie, die ihr Brot versteuern muss; im Hintergrund ziehen wohlhabende Bürger und Adlige vorbei – unbehelligt, selbstverständlich.

    Titel: Eintreibung der Mahl- und Schlachtsteuer, Künstler: Wilhelm Kleinenbroich Jahr: 1847 Ort: Kölnisches Stadtmuseum (Köln)

    Im 19. Jahrhundert, sagt einem das Bild, stand Köln nicht nur am Rhein, sondern auch an einer unsichtbaren Grenze: am Tor zwischen Hunger und Würde. Die Mahl- und Schlachtsteuer machte aus einem Laib Brot und einem Stück Fleisch kleine Luxusgüter des Alltags. Sie wurde da erhoben, wo man sie nicht übersehen konnte: an den Stadttoren, in Waagen, Listen und Blicken. Wer hineinwollte mit Mehl, musste zahlen; wer ein Tier schlachten ließ, ebenso. Und als wäre das nicht Hohn genug, war Wildbret von der Steuer ausgenommen – das Fleisch der Reichen, frei von Abgaben, während der arme Mann sein Brot mitbezahlte. Selbst die Ungleichheit hatte damals ihre Speisekarte, dachte Faulmann. Es war eine Steuer, die nicht auf Taler zielte, sondern auf Mägen.

    Sie traf die Falschen zuerst. Tagelöhner, Gesellen, kleine Handwerker, deren Geldbeutel schon am Morgen dünn war: Sie zahlten nicht irgendwo in Formularen, sondern abends an der Theke der Bäckerei – heimlich versteckt im Preis des Brotes. Und weil Städte nie genug bekommen, legte die Kommune oft noch einen Zuschlag drauf – ein kleiner, unscheinbarer Prozentsatz, der den Teig nicht schwerer die Gesichter aber länger machte. Auf dem Land zahlte man derweil Klassensteuer, nach Vermögen gestaffelt; in der Stadt zahlte man Verbrauch, egal wie knapp das Leben war. So entstand eine fiskalische Stadtmauer, unsichtbar, aber wirksam.

    Wo Mauern sind, gibt es Schleichwege. In feuchten Nächten zogen Säcke mit Mehl querfeldein, an Hecken entlang, durch Kellertüren: Schmuggel als stille Widerrede. Manchmal war es nur ein paar Hände voll, die den Unterschied machten zwischen einer Suppe und einer Suppe mit Brot. Der Staat nannte das Ungehorsam; die Leute nannten es Not.

    Dann kamen die schlechten Jahre: Missernten, Kartoffelfäule, Preise, die so schnell stiegen wie die Laune fiel. Die Steuer stand weiter am Tor und verlangte ihren Anteil, als sei das Wetter eine Ausrede. Vor den Bäckereien bildeten sich schmale Schlangen, Kinder sahen der Kruste beim Teurerwerden zu, und in den Stuben zählte man, ob morgen noch Fleisch im Topf schwimmt oder nur Geschichten davon. Die Wut suchte sich Ziele: nicht abstrakte Paragrafen, sondern Stände, Metzgereien, Marktbuden – die sichtbaren Enden einer unsichtbaren Rechnung.

    Kleinenbroich hat das verstanden: vorn die Familie, die zahlen muss; hinten die wohlhabenden Bürger und Adligen, die passieren, als sei die Steuer für andere erfunden. Preußen nannte es Ordnung. Faulmann denkt: Es war ein Preisaufschlag auf’s Überleben – und der Staat stand daneben, mit sauber geführten Listen.


    Faulmanns Seitenblick: Alte Steuern, neue Gesichter

    Manches ändert sich, manches wechselt nur das Kostüm. Damals war es der Torwächter mit Waage, heute sind es Handelszölle, Strompreise, Steuerpakete. Immer wieder geht es um dieselbe Frage: Wer trägt die Last – und wer läuft einfach vorbei?

    Manche Zölle wirken wie eine moderne Variante der Mahlsteuer: laut verkündet als Schutzmaßnahme, still bezahlt von den Verbrauchern. Und wenn Faulmann die Nachrichten über neue Steuerpläne liest – Entlastung hier, Anreiz da, Diskussion über Gerechtigkeit –, dann hört er zwischen den Zeilen denselben Ton: Die alten Fragen sind noch nicht gelöst, sie tragen nur neue Anzüge.


    Und plötzlich begriff der Bär: Wie viel in dieser Stadtgeschichte vom Mahlwerk des Lebens erzählt – von Rädern, die sich drehen; von Strömungen, die man nutzt oder bekämpft; von Regeln, die Preise erhöhen, und Gesetzen, die Stimmungen kippen. Vom Versuch, das Gleichgewicht zu halten zwischen Wasser, Macht und Mensch. Irgendwo in diesem Kreislauf von Mühlen und Märkten, Strömen und Steuern, steht, so hofft der Kapitän, doch immer wieder ein Mensch auf und sagt: „Man darf nehmen, was man zum Leben braucht.“ Köln hat da ja mitunter friedliche Wege gefunden, mit Ungerechtigkeit umzugehen – mal durch Schmuggel, mal durch Segensspruch: Als Kardinal Frings 1946 das „Fringsen“ erlaubte, war das im Grunde nichts anderes als eine moralische Steuerreform – befristet, solidarisch und ganz ohne Formular. Faulmann nickte. Vielleicht war das Fringsen eine sanfte Form der Revolution.

    Draußen nieselte es noch. Die Marathon-Absperrungen klirrten im Wind. Faulmann blieb kurz stehen, sah zum Himmel und dachte: Vielleicht ist Köln selbst wie eine Schiffsmühle – fest verankert, vom Strom getragen, und immer ein bisschen am Rand des Überlaufens.